- Mit Prinzipientreue neue Wege gehen
Wie aktuell ist konstruktive Kunst im 21.Jahrhundert noch?
Gabriele Hoffmann
Aus unterschiedlichen ideologischen Wurzeln entstand im frühen 20.Jahrhundert eine Kunstrichtung, deren bildnerischer Elementarismus
Ausdruck technisch-wissenschaftlichen Denkens war. Rationalität und Formstrenge sind geblieben, sie verbinden sich in der gegenwärtigen
konstruktiven Kunst mit einer Vielfalt von Zielen und Methoden.Die niederländische Künstlergruppe
«destijl» spricht in ihrem ersten Manifest 1918 von einem «neuen Zeitbewusstsein», in dem das Universelle den Vorrang vor dem Individuellen hat.
Mondrian erkannte, «dass das Abstrakte - als das Mathematische - sich durch alle Dinge und in allen Dingen tatsächlich selber darstellt». Für
die bildnerische Realisierung dieses Allgemeinen sollten neben dem rechten Winkel, der «Urbeziehung», nur die reinen Primärfarben
zugelassen sein. Van Doesburg verkündete: «Wir geben alle subjektive Auswahl von Formen auf und bereiten die Verwendung eines objektiven
universalen Gestaltungsmittels vor.» Eine zumindest gleich grosse Bedeutung für die Ablösung des individualistischen Kunstverständnisses hatte der russische
Konstruktivismus.
El Lissitzky resümiert die Aufgabe der neuen Kunst so: «Sie hat, wie die Wissenschaft, die Form bis auf die Grundelemente zerlegt, um sie
nach den universellen Gesetzen der Natur wieder aufzubauen.» Die dritte Kraft in der Durchsetzung allgemeiner, von der Wirklichkeit vorgegebener
Gesetzmässigkeiten war das deutsche «Bauhaus». Gropius spricht gar vom «Diktat konstruktiver Logik».
KONSTRUKTIV-KONKRET
Van Doesburg hatte bereits 1924 die «konkrete Malerei» von der «abstrakten» unterschieden. Max Bill formuliert im gleichen Sinne 1936: «Konkrete Kunst nennen wir jene Kunstwerke, die auf Grund ihrer ureigenen Mittel und Gesetzmässigkeiten - ohne äusserliche Anlehnung an Naturerscheinungen oder deren Transformierung, also nicht durch Abstraktion - entstanden sind.» Al direkte Erben van Doesburgs gelten Camille Graeser, Richard Paul Lohse, Verena Loewensberg und Max Bill - die «Zürcher Konkreten».
Hans Heinz Holz beharrt in seinem 2001 erschienenen Buch «Seinsformen. Über strengen Konstruktivismus in der Kunst» darauf, «konstruktivistisch» im eigentlichen Sinn nur eine Kunst zu nennen, in der es - wie in der Philosophie und den Wissenschaften - um Konstruktion auf Grund einer «Idee der Totalität» geht. «Im strengen Sinne wird man also nur dann von Konstruktion sprechen dürfen, wenn die Entwicklung der Form in allen ihren Momenten gesetzlich erfolgt,so dass jedes Element in seiner Lage und in seiner qualitativen Besonderheit logisch eindeutig bestimmt ist.» Wir wollen für die Gegenwart den Begriff weiter fassen und «konstruktive» Prinzipientreue auf neuen Wegen zeigen. Mit seiner technisch-wissenschaftlichen Rationalität als Rückgrat war der
Konstruktivismus von Anfang an gegen kurzlebige Eskapaden des Zeitgeistes besser gefeit als andere Kunstrichtungen. So erklärt sich das Phänomen der oft nahen künstlerischen Verwandtschaft über mehrere Generationen hinweg.
Das bestätigt seit kurzem die Ausstellung der herausragenden Sammlung von Peter C. Ruppert «Konkrete Kunst in Europa nach 1945»
im neu eröffneten «Museum im Kulturspeicher» Würzburg.
Zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten «dritten Generation» in der «Stijl»-Nachfolge gehört der niederländische Maler Bob Bonies, der zurzeit mit neuen Arbeiten bei Edith Wahlandt in Stuttgart zu sehen ist. Seine als Shaped Canvas gestalteten «Anwendungen von Farbe, Form und Mass» bieten das Schauspiel eines Konflikts zwischen Statik und Dynamik. In einem Bild von 2002 dominieren zwei zusammengeschobene rote Quadrate, die man als zeitlich aufeinander folgende Phasen wahrnimmt - als Moment einer Geburt. Doch gegen die Wahrnehmung dieser Bewegung revoltiert die das Bild konstituierende Gesetzmässigkeit, die den Nabel des «Neugeborenen» mit dem verdeckten Eckpunkt seines Erzeugers und dazu noch mit dem ebenfalls unsichtbaren Mittelpunkt einer weissen Kreisform zusammenfallen lässt
MATHEMATIK ALS THEMENRESERVOIR
Die Geometrie mehrdimensionaler Körper ist das Terrain, auf dem sich der 1938 in Pforzheim geborene und seit 1981 in New York lebende Künstler Manfred Mohr bewegt. Die 1998 mit Hilfe des Computers erstellten «Half Planes» beschreibt er als «Erzählungen» von einem «nicht fassbaren, aber dennoch beschreibbaren 6-D-Raum». Es sind grossformatige, mit Zahlen und Buchstaben bezeichnete Bilder, bei denen Mohr nach Jahrzehnten erstmals wieder Farbe verwendet. Was wir sehen, aber nach dem Augenschein allein nicht deuten können, sind «Projektionen von Würfelkanten aus dem sechsdimensionalen Raum». Gegenstand jedes einzelnen Werks ist ein Aspekt der komplexen Struktur des Hyperwürfels mit seinen 36 Diagonalen und 720 «Diagonalwegen». Ihre schräge Ästhetik verdanken die Bilder der Verbindung eines algorithmisch erzeugten Linienkonglomerats und einer durch Los bestimmten Farbauswahl. Selten fällt einem die Unterscheidung von Geschmacks- und Kunsturteil so leicht wie bei Mohrs bizarren Konstruktionen.
«Ich liebe die Geometrie, aber ich liebe es noch mehr, sie zu bescheissen. Der heute sechsundsiebzigjährige François Morellet tut noch
immer, was er einmal gesagt hat. Leichten Sinns pendelt er zwischen konstruktiver Ordnung und ebensolcher Unordnung. Bill hatte ihm in jungen Jahren
den Tugendweg der Mathematik gewiesen, auf dem er Werke «herzustellen» begann, denen Max Bense «ästhetische Eigenrealität» bescheinigte. 1991 stellt
Morellet «Gitane nO2 (3 demi-circles de néon inclinés à 0O, 45O, 90O dans un angle)» in ein Raumecke. Geht man um den Lichtschnörkel herum, wird man Zeuge, wie «Gitane» mal die eine, mal die andere Kurve «verliert».
NEUE INTERPRETATIONSSPIELRÄUME
Deutlich kühler wirkt da die geometrische Konstruktion in den Bildern von Peter Halley. Ausserhalb von Clement Greenbergs Gehege einer abstrakten Malerei ohne Bezug zur realen Welt entwickelte Halley einen geometrischen Formalismus, in dem das Quadrat als «Zelle» doppelte Bedeutung besitzt: eine formale für die Struktur der Bildfläche und eine symbolische in Bezug auf die amerikanische urbane Architektur. Das konstruktive System «Cells» (auch «prison cells») verlangt Roll-A-Tex für das zentrale Quadrat und grellbuntes Day-Glo-Acryl für die rechtwinklig rahmenden «Zuleitungen». Vom strengen Konstruktivismus eines Richard Paul Lohse, für den die logische Struktur das Bild ist, hat sich Halley bei aller Anhänglichkeit ans Quadrat weit entfernt. - Markus Weggemann, der in
den neunziger Jahren mit starkfarbigen Streifenbildern an die Tradition der Konkreten angeknüpft hatte, macht mit «Überquerung der Alpen in einer Nacht» (1999/2000) einen Ausflug in die Hard Edge. Die drei- bis vierfarbige, Rechteck und Raster sanft umspielende Lackmalerei holt mit spiegelnden Oberflächen den Betrachter ins Bild. So viel Zuwendung weckt seine Lust auf Leckeres. Es könnte ein Eis, aber auch ein neues Auto sein. «Eine Arbeit, wie ich sie mir vorstelle, muss Platz schaffen zum Atmen», sagt Weggemann mit einem deutlichen Hieb gegen den rechten Winkel. Ben Hübsch nutzt die Sprengkraft aufreizender Farbkonstellationen, um Logik und Klarheit seiner Bildordnungen in Bedrängnis zu bringen.
Mit einem konzeptuellen Ansatz verleiht die Schweizer Künstlerin Renée Levi der konstruktiven Kunst Aktualität. In den Jahren 1994 und 1995 behängt sie freistehende Stellwände mit beidseitig blau bemalten Papierbahnen. Sie zieh den Vorhang zu vor dem für die Kunst reservierten Ort und wohl auch vor einem allmählich in die Jahre gekommenen selbstreferenziellen Diskurs. 1994 entsteht die Installation «Rote Kuben». Es geht um eine Beziehung zwischen
Farbe und Material: Pinkrot führt Schaumstoff in seiner Banalität vor. Vorbild könnte ein anthropologisches Beziehungsmuster gewesen sein.
In jedem Fall lädt die Arbeit dazu ein, konstruktiv-konkret über malereiinterne Probleme hinauszudenken.
Der in den USA lebende Schweizer Olivier Mosset hatte über Jahre versucht, mit Radical Painting Grundfragen der Malerei zu klären, als ihm 1986 bewusst wurde, dass er «mit grossen monochromen Bildern keine Aussage» mehr machen konnte. Seit er die monochrome Fläche zum Malgrund für geometrische, an Signete erinnernde Formen nutzt, gibt er dem Bild neuen Deutungsspielraum. Wenn sich aus einer roten Fläche ein fünfzackiger Stern in dunklerem Rot und leicht perspektivischer Verzerrung löst, so konstituiert sich der Bildsinn aus den Beziehungen zwischen Farbe und Form, noch bevor der Stern als Symbol wahrgenommen wird.
MALEREI ALS RECHERCHE
Die Bildkonzepte des Stuttgarter Künstlers Karl Duschek sind der Versuch, das Gedankenmodell einer unendlichen Mannigfaltigkeit durch
ein Relationensystem zu veranschaulichen. Das geschieht mit einer kleinen Zahl von individuellen Elementen - aus zwei Quadraten gebildete Rechtecke (Quader bei Wandinstallationen) in den Farben Gelb, Rot, Blau und Grün. Es gilt, die das Bild konstituierende Regel aus der Abwandlung der Primärkategorien zu analysieren. Eine das System optisch auflockernde gestische Zutat sind «Pinselspitzen», die sich in letzter Zeit mit ihrer zufälligen Form unter die «gesetzlichen» Formelemente mischen.
Logischen Nachvollzug fordert auch die jüngst in der Stiftung für konkrete Kunst Reutlingen gezeigte Werkfolge von Hartmut Böhm: Sie umfasst
115 Zeichnungen, die, zwischen Glasplatten gelegt, im Winkel von 30O an der Wand lehnten. Neben dem einheitlichen Hochformat und der Beschränkung auf
Büttenpapier, Bleistift und elfenbeinfarbene Lasur gelten für den Reutlinger Block zwei Prämissen: Orthogonalität und Proportionalität. Dem Betrachter
bleibt da nur das Mass nehmende und vergleichende Sehen, um dem Zusammenspiel von Linie, leerer und farbiger Fläche auf die mathematischen Schliche zu
kommen. Wenn er dann am Ende nach eigenen Ideen das Werk der proportionalen Teilung fortsetzt, ist das ein Zeichen: Es hat gefunkt. Was gibt es Besseres
zur Aktualität konstruktiver Kunst zu sagen?
Frau Gabriele Hoffmann lebt als Kunstkritikerin in Deutschland.
Dieser Artikel wurde in der NZZ-Ausgabe vom 2./3. November 2002 publiziert. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Bewilligung der NZZ und der Verfasserin